Es gibt Jahre, die verändern das Denken. 2024 war so eines. In Deutschland fielen die letzten Zweifel an der Realität der Klimakrise – wie welkes Laub im Sturm. Die Temperaturkurven haben nicht nur neue Rekorde aufgestellt, sie haben unser Verständnis von „normalem Wetter“ aus den Angeln gehoben.
Ein Jahr im Hitzefieber
10,9 Grad Celsius im Jahresdurchschnitt. Klingt harmlos? War’s nicht. Dieser Wert katapultierte 2024 an die Spitze der Temperaturstatistik – seit Beginn der flächendeckenden Wetteraufzeichnungen im Jahr 1881 war kein Jahr wärmer. Und das ist kein Zahlenspiel, kein kurioser Fun Fact aus der Klimaforschung. Das ist ein Fieberthermometer für ein ganzes Land.
2023 hatte schon vorgelegt, doch 2024 setzte noch einen drauf – 0,3 Grad wärmer. Wer das für eine Kleinigkeit hält, hat noch nicht verstanden, wie empfindlich das Klimasystem reagiert. In der Wissenschaft gilt diese Steigerung als „außergewöhnlich“. Und wenn sogar die nüchternen Köpfe der Klimatologie mit solchen Vokabeln hantieren, sollten bei uns allen die Alarmglocken schrillen.
Ein Februar wie ein April
Besonders bizarr war der Februar. In Norddeutschland lag die Temperatur sage und schreibe 6,2 Grad über dem langjährigen Mittel von 1961 bis 1990. Wer damals noch Schnee schippte, ging 2024 im T-Shirt spazieren. Wie soll man damit umgehen, wenn der Winter ausfällt – zum zweiten, dritten oder fünften Mal?
Und dann kam der 5. April. Der erste Sommertag des Jahres. Über 25 Grad. Nur einen Tag später knackte Ohlsbach in Baden-Württemberg sogar die 30-Grad-Marke – ein historisches Novum. Man muss sich das auf der Zunge zergehen lassen: 30 Grad. Anfang April. Vor ein paar Jahren hätte das niemand für möglich gehalten. Heute? Nur eine weitere Schlagzeile unter vielen.
Der Regen kam – und blieb
Doch das Jahr 2024 war nicht nur heiß, es war auch nass. Mit rund 902 Millimetern Niederschlag gehörte es zu den regenreichsten seit Beginn der Aufzeichnungen. Eine gute Nachricht für die ausgedörrten Böden, die leeren Talsperren, die dürstenden Wälder. Der Grundwasserspiegel konnte sich etwas erholen – immerhin.
Gleichzeitig war es ein sonniges Jahr. 1.675 Sonnenstunden – mehr als der Durchschnitt der Jahre 1991 bis 2020. Sonne, Regen, Wärme: Klingt fast wie ein mediterraner Traum. Doch in Wirklichkeit war es eher ein fieberhafter Tanz der Extreme. Wer bei so viel Wetterkapriolen noch an Zufall glaubt, glaubt vermutlich auch an Einhörner im Schwarzwald.
Klimatrendlinie: Der Ernst der Lage
Der Deutsche Wetterdienst hat reagiert. Mit einer neuen Klimatrendlinie, die besser zeigt, wie rasant die Temperaturen steigen. Seit der vorindustriellen Zeit hat sich Deutschland im Schnitt um 2,5 Grad erwärmt – mehr als der globale Durchschnitt. Wir sind ein Brennglas der Erderwärmung.
Und das hat Folgen. Riesige Folgen.
Wetterextreme als neue Normalität
2024 war ein Jahr, das uns endgültig klar gemacht hat: Die Extreme sind gekommen, um zu bleiben. Was früher Ausnahme war, ist heute Alltag. Und wer in einer Dachgeschosswohnung in der Stadt lebt oder im Rollstuhl unterwegs ist, spürt das besonders.
Denn die Hitzewellen treffen nicht alle gleich. Alte Menschen, Kleinkinder, Menschen mit Vorerkrankungen oder ohne festen Wohnsitz – sie zahlen den höchsten Preis für die Erhitzung unseres Klimas. Die soziale Frage brennt sich tief in die Klimafrage ein.
Städte als Hitzeinseln
Vor allem Städte geraten unter Druck. Asphalt, Beton, Glas – das alles speichert Wärme wie ein Backofen. Nachts kühlen die Straßen kaum noch ab, die Gesundheit der Menschen leidet. Und trotzdem entstehen neue Bauprojekte, ohne Bäume, ohne Schatten, ohne Luft.
Wäre es nicht an der Zeit, Stadtplanung neu zu denken?
Mehr Parks, mehr Wasserflächen, mehr Begrünung – das ist kein Öko-Schnickschnack, das ist überlebenswichtig. Klimaanpassung beginnt nicht in Brüssel, sondern im Kiez.
Wissenschaft in Kooperation – nicht im Elfenbeinturm
Was wir jetzt brauchen, ist ein Zusammenspiel der Disziplinen: Meteorologie, Stadtplanung, Medizin, Sozialwissenschaften – alle an einem Tisch. Denn die Klimakrise lässt sich nicht mit einem Schraubenzieher reparieren. Sie verlangt nach einem Werkzeugkasten, einem großen, vielfältigen.
Und ja, manchmal wirkt es frustrierend, wenn man sieht, wie wenig sich bewegt. Wenn Entscheidungen vertagt, Pläne verwässert, Versprechen gebrochen werden. Aber Aufgeben ist keine Option. Nicht für uns. Nicht für kommende Generationen.
Ein persönlicher Blick zurück
Als ich Anfang 2024 mit Kolleg:innen am Rand eines abgebrannten Waldes im Harz stand, war da dieser Moment – still, grau, eindrücklich. Vögel fehlten, der Boden war rissig, Borkenkäfer hatten den Rest erledigt. Und trotzdem war da auch etwas anderes: Hoffnung. Denn direkt daneben sprossen junge Bäume. Noch klein, noch verletzlich – aber voller Leben.
Kann eine Gesellschaft das auch? Sich neu aufstellen, wachsen, mutiger werden?
Ein Jahr als Weckruf
2024 hat gezeigt, was möglich ist – im Guten wie im Schlechten. Es war das heißeste Jahr seit Beginn der Messungen. Doch es war auch ein Jahr der Erkenntnis. Der Dringlichkeit. Und hoffentlich: der Wende.
Denn das Klima verhandelt nicht. Aber wir können es. Noch.
Von Andreas M. Brucker