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Manche Menschen hinterlassen nicht nur Spuren – sie pflanzen Wälder.

Der brasilianische Fotograf Sebastião Salgado ist am 23. Mai 2025 im Alter von 81 Jahren in Paris gestorben. Was bleibt, ist ein Werk, das tiefer geht als jedes Bilderbuch, schärfer als jede Statistik und kraftvoller als manche Rede vor der UN. Wer sich einmal durch seine Schwarzweißbilder bewegt hat, versteht: Hier hat jemand mit der Kamera das eingefangen, was andere oft nicht einmal zu sehen wagen.

Was treibt einen Menschen dazu, Bäume zu pflanzen – und gleichzeitig Menschen in ihren härtesten Momenten zu fotografieren?

Die Antwort liegt in Salgados Leben selbst. Und das liest sich wie ein Roman über Verantwortung, Schönheit und Schmerz.

Vom Rechnen zum Sehen

Geboren 1944 in Aimorés, einem Städtchen im Südosten Brasiliens, schien Salgados Karriere zunächst eine ganz andere Richtung zu nehmen. Wirtschaftswissenschaften, Promotion in Paris, Job bei der Internationalen Kaffeeorganisation. Erfolg, Anzug, Sitzungen – das volle Programm. Doch dann: Afrika. Reisen, Armut, Stärke. Der Moment, in dem er die Kamera seiner Frau in die Hand nahm, veränderte alles.

Was für andere ein Reise-Souvenir ist, wurde für Salgado der Schlüssel zur Welt. Und zwar zur echten Welt – der mit den Falten, den offenen Wunden, aber auch der Welt mit Hoffnung in den Augen.

Ab 1973 arbeitete er als Fotograf, zunächst für Agenturen wie Gamma und Sygma. 1979 wurde er Teil von Magnum Photos, dieser legendären Fotoagentur. Später gründete er mit seiner Frau Lélia Wanick Salgado „Amazonas Images“ – ein Name, der wie ein Versprechen klingt.

Menschen. Fluchten. Erde.

Salgado arbeitete nicht in Serien. Er erschuf Zyklen. Große, umfassende, tief recherchierte Projekte.

„Workers“ – ein bildgewaltiges Porträt der körperlichen Arbeit, hart wie Stahl, schwer wie Kohle. Minenarbeiter in Brasilien, Schwefelträger in Indonesien, Fischer in Galicien. Kein Photoshop. Nur Schweiß und Würde.

„Exodus“ – das Jahrhundertprojekt zur globalen Migration. Flüchtlinge aus Ruanda, Vertriebene in Bosnien, Wirtschaftsflüchtlinge aus Mexiko. Millionen Gesichter – und keines davon anonym.

Nach dem Genozid in Ruanda verlor Salgado beinahe sich selbst. Er sprach offen darüber, dass ihn die Grausamkeit dieser Erlebnisse innerlich zerstörte. Doch statt zu verstummen, wandte er sich der Erde zu. Mit dem Projekt „Genesis“ suchte er nach dem Unberührten, nach dem Ursprung. Später, mit „Amazônia“, schuf er ein mächtiges visuelles Denkmal für die indigene Vielfalt und den bedrohten Lebensraum Amazonas.

Schönheit und Schmerz im Gleichklang

Kritik blieb nicht aus. Manche warfen Salgado vor, das Leid zu ästhetisieren – als würde er den Schmerz in einen Goldrahmen setzen. Aber war es nicht gerade seine Kunst, das Menschliche im Entmenschlichten sichtbar zu machen?

Salgado antwortete seinen Kritikern stets gleich: Seine Bilder seien keine Voyeur-Show, sondern ein Dialogangebot. Wer hinschaut, soll fühlen – nicht bewerten.

Und tatsächlich: Seine Aufnahmen sind nie zynisch. Sie urteilen nicht. Sie begegnen.

Die Kamera als Werkzeug der Heilung

Was viele nicht wissen: Salgado heilte sich selbst – mit Bäumen.

1998 gründete er mit seiner Frau das Instituto Terra. Auf seinem ehemaligen Familiensitz, einer ausgelaugten Viehfarm im atlantischen Regenwald, pflanzten sie über zwei Millionen Bäume. Heute zwitschern dort Vögel, wo früher nur Staub war. Dieses Projekt zeigt: Wer das Leid kennt, lernt auch das Leben neu zu schätzen.

Was für eine Vorstellung: Ein Fotograf, der nicht nur das Vergängliche festhält, sondern auch das Zukünftige schafft.

Salgados Blick bleibt

„Das Salz der Erde“ – der Dokumentarfilm von Wim Wenders und Juliano Salgado, seinem Sohn – gewährt intime Einblicke in das Leben dieses Ausnahmekünstlers. Ein Mensch, der nicht aufgehört hat zu glauben, dass Fotografie verändern kann.

Preise? Viele. Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, Praemium Imperiale, Ehrendoktorwürden.

Doch Salgado selbst hätte vermutlich lieber einen Baum gepflanzt als einen Preis angenommen. Weil es bei ihm nie um Ruhm ging, sondern um Wirkung.

Und die ist enorm.

Ein letzter Blick

Man fragt sich: Wer hält jetzt fest, was wir verlieren? Wer erzählt künftig von der Würde im Dreck, vom Leben im Nebel des Amazonas?

Salgados Tod ist ein schwerer Verlust – keine Frage. Doch sein Werk lebt. In Büchern, Ausstellungen, Schulklassen. In Diskussionen über Gerechtigkeit, Flucht, Umwelt.

Und vielleicht – ganz vielleicht – auch in dem einen Moment, in dem ein Mensch innehält und sagt: Ich sehe.

Autor: Andreas M. Brucker