Es klingt wie der Plot eines Science-Fiction-Thrillers: Ein Gletscher in der Westantarktis schnappt sich das Eis seines Nachbarn – mit beispielloser Geschwindigkeit. Doch das ist kein Drehbuch, sondern harte Realität. Was Satelliten in der Pope-Smith-Kohler-Region enthüllen, stellt gängige Vorstellungen über Gletscherverhalten auf den Kopf – und bringt neue Dringlichkeit in die Diskussion um den globalen Meeresspiegelanstieg.
Eis-Piraterie – klingt absurd? Ist aber messbar
Stell dir zwei Gletscher wie Nachbarn vor, die sich bisher friedlich den Eisnachschub aus dem Inland teilen. Plötzlich aber beginnt der eine, dem anderen die Grundlage zu entziehen – buchstäblich. Der Kohler-Ost-Gletscher hat in weniger als zwei Jahrzehnten seine Fließgeschwindigkeit um satte 87 % erhöht und zieht dabei Masse aus dem westlich angrenzenden Kohler-West-Gletscher ab.
Was dort passiert, nennen die Wissenschaftler „Eis-Piraterie“ – ein provokanter Begriff, der die Dramatik des Geschehens treffend einfängt.
Während Kohler Ost zulegt, wird Kohler West langsamer. Die Ursache? Eine veränderte Oberflächenneigung durch unterschiedliche Abschmelzraten, wie die leitende Forscherin Dr. Heather L. Selley von der University of Leeds erklärt. Der Eisfluss kippt – im wahrsten Sinne.
Satte sieben Fußballfelder pro Jahr
Und das ist nicht nur eine lokale Anomalie. Satellitenmessungen von ESA, NASA, JAXA und der kanadischen Raumfahrtagentur zeigen: In der Region haben sich sieben von acht Eisströmen seit 2005 im Durchschnitt um 51 % beschleunigt. Sechs davon fließen heute mit über 700 Metern pro Jahr – das entspricht der Länge von sieben Fußballfeldern.
Die Wissenschaftler analysierten Merkmale wie Risse, Spalten und Oberflächenstrukturen und kombinierten diese Daten mit Höhenveränderungen des Eises aus der ESA-Mission CryoSat. So entstand ein genaues Bild davon, wie sich das Eis bewegt, wo es dünner wird – und wie die Fließrichtung sich verändert.
Was sagt uns das?
Gletscherdynamik ist kein träger Prozess. Sie kann sich innerhalb einer Generation radikal verändern.
Die unsichtbare Welle: Der Meeresspiegel steigt
Der beschleunigte Eisfluss bedeutet eines: Mehr Eis landet schneller im Meer. Das erhöht unweigerlich den Meeresspiegel. Und zwar global.
Die Piraterie des Kohler-Ost-Gletschers beschleunigt den Zerfall des Dotson- und Crosson-Eisschelfs – zwei schwebende Gletscherzungen, die wie Bremsklötze funktionieren. Wenn sie instabil werden oder abbrechen, rauscht das Inlandeis ungebremst ins Meer.
Professorin Anna Hogg bringt es auf den Punkt: „Die Umleitung des Eisflusses ist ein neuer, bedeutender Prozess, der für das Verständnis struktureller Veränderungen in Gletschern entscheidend ist.“ Mit anderen Worten: Was wir hier sehen, könnte sich bald in anderen Regionen wiederholen – oder hat es längst.
Die Uhr tickt schneller
Noch vor wenigen Jahren ging man davon aus, dass Eisschildveränderungen Jahrhunderte dauern. Heute wissen wir: Es kann in weniger als 20 Jahren geschehen. Unsere Klimamodelle hinken dieser Realität noch hinterher – ein gefährliches Spiel.
Wer Meeresspiegelanstieg verstehen will, muss Gletscher als lebendige, hochdynamische Systeme begreifen. Die Idee vom trägen Eisschild gehört endgültig ins Museum.
Was heißt das für uns?
Diese neuen Erkenntnisse fordern ein radikales Umdenken:
- Klimamodelle müssen aktualisiert werden – mit präzisen, satellitengestützten Daten zur Eisdynamik.
- Küstenregionen weltweit – von Bangladesch bis Hamburg – brauchen realistischer berechnete Schutzmaßnahmen.
- Forschung und Politik müssen enger zusammenarbeiten, um mit der sich beschleunigenden Realität Schritt zu halten.
Dabei geht es nicht nur um Zentimeter auf dem Maßstab – sondern um Menschenleben, Lebensräume, kulturelles Erbe. Und um die Frage: Wie schnell sind wir bereit zu handeln?
Ein Wettlauf gegen das Schmelzen
Dieser „Diebstahl“ in der Antarktis ist mehr als nur eine kuriose Fußnote der Klimaforschung. Er ist ein Symptom dafür, dass unser Planet in Bewegung ist – schneller und unberechenbarer als gedacht. Die Eis-Piraterie ist ein Warnsignal.
Wenn Eisströme wie Kohler Ost ihre Nachbarn leer saugen, bleibt nicht nur weniger Eis auf dem Land. Es bleibt uns auch weniger Zeit.
Das Eis spricht – nur hören wir ihm wirklich zu?
Autor: MAB
Quellen:
- University of Leeds / British Antarctic Survey / The Cryosphere
- ESA / NASA / JAXA / Canadian Space Agency
- Welt der Physik: https://www.weltderphysik.de/gebiet/erde/nachrichten/2022/klimawandel-abbrechende-gletscher-und-der-meeresspiegel/
- Technology Networks: https://www.technologynetworks.com/tn/news/a-glacier-in-antarctica-is-committing-ice-piracy-399418
- Bioengineer.org: https://bioengineer.org/satellites-detect-glacial-ice-piracy/