Es klingt paradox – aber Europa kommt besser mit der Kälte zurecht als mit der Hitze. Obwohl der Klimawandel in erster Linie für steigende Temperaturen verantwortlich ist, hat sich die europäische Bevölkerung in den vergangenen zwei Jahrzehnten effektiver gegen Kälte geschützt als gegen extreme Hitze. Eine neue Studie des Barcelona Institute for Global Health legt genau diesen Unterschied offen – und zeigt, warum Hitze zur unsichtbaren Gefahr des 21. Jahrhunderts werden könnte.
Zahlen, die aufrütteln
In über 800 Regionen und 35 Ländern Europas wurden die Sterberaten im Zusammenhang mit extremen Temperaturen zwischen 2003 und 2020 ausgewertet. Das Ergebnis: Während das Risiko, an sehr kalten Tagen zu sterben, jährlich um rund 2 Prozent sank, ging das Risiko bei extremer Hitze nur um etwa 1 Prozent pro Jahr zurück. Das klingt zunächst nicht dramatisch – ist aber im Kontext wachsender Hitzebelastung brandgefährlich.
Denn der Trend ist eindeutig: Hitze nimmt zu, Kälte ab. Aber die Anpassung hinkt – vor allem dort, wo die Sonne erbarmungslos zuschlägt.
Warum Hitze gefährlicher ist als Kälte
Kälte ist bekannt, vertraut, greifbar. Der Mensch hat gelernt, sich dagegen zu wappnen: durch warme Kleidung, Heizungen, isolierte Häuser, Winterdienst. Bei Hitze hingegen steht Europa noch am Anfang eines langen Lernprozesses. Denn hohe Temperaturen wirken nicht wie ein Schneesturm oder ein Orkan – sie schleichen sich ein, bleiben lange, rauben den Schlaf, belasten Herz und Kreislauf.
Die Sommer werden länger, die Nächte bleiben warm – die Erholung fehlt. Und das trifft vor allem ältere Menschen, Kranke, Kinder und Menschen mit geringem Einkommen. Wer keine klimatisierte Wohnung hat oder im siebten Stock lebt, spürt die körperliche Belastung unmittelbar.
2024 – das Jahr, das alles veränderte?
Dass die Zeit zum Handeln längst gekommen ist, zeigt ein Blick auf das Jahr 2024. Es war das heißeste seit Beginn der Wetteraufzeichnungen. In Südosteuropa wurden 66 gefährlich heiße Tage gemessen – also Tage mit Temperaturen, die direkt die Gesundheit gefährden können. Hinzu kamen 23 tropische Nächte, in denen die Temperaturen nicht unter 20 Grad fielen – keine Erholung, kein Durchatmen.
Solche Nächte machen aus einer Hitzewelle ein echtes Gesundheitsrisiko. Sie erhöhen das Risiko für Herzinfarkte, Kreislaufzusammenbrüche, Hitzeschläge – und für stille Katastrophen, die sich in Krankenhäusern und Altersheimen abspielen.
Regionale Unterschiede – ein Europa, viele Klimawirklichkeiten
Nicht alle Regionen Europas sind gleich betroffen. Während Skandinavien von milderen Wintern profitiert und die Zahl kältebedingter Todesfälle zurückgeht, stehen Länder wie Italien, Griechenland, Rumänien oder Spanien unter ständigem Hitzestress. Auch der Osten Europas ist besonders anfällig – dort fehlen vielerorts moderne Infrastrukturen zur Kühlung oder Frühwarnung.
Hinzu kommt: Städte sind besonders betroffen. Die sogenannte urbane Wärmeinsel – also das Phänomen, dass es in dicht bebauten Gebieten deutlich heißer ist als im Umland – macht Metropolen wie Paris, Mailand oder Bukarest zu Hitze-Hotspots. Und oft leben dort gerade jene Menschen, die sich am wenigsten schützen können.
Was tun gegen die stille Katastrophe?
Die Studie sendet eine klare Botschaft: Europa muss lernen, mit der Hitze zu leben. Und zwar jetzt. Anpassungsstrategien gibt es – sie müssen nur flächendeckend umgesetzt werden.
Einige Beispiele zeigen, wie es gehen kann:
- Städtische Begrünung: Parks, Bäume, begrünte Dächer und Fassaden senken nachweislich die Temperaturen in der Stadt. Sie spenden Schatten, binden CO₂ und sorgen für Abkühlung durch Verdunstung.
- Gebäudekühlung und Wärmeschutz: Nicht nur Heizsysteme gehören modernisiert, sondern auch Dämmung und Verschattung. Intelligente Architektur kann viel bewirken – und spart Energie.
- Frühwarnsysteme und Gesundheitsdienste: Kopenhagen setzt auf Parks, die Regenwasser aufnehmen können. Glasgow warnt frühzeitig vor Hitzewellen. Solche Systeme müssen europaweit Standard werden.
- Aufklärung und Prävention: Viele Menschen wissen nicht, wie gefährlich Hitze sein kann. Öffentlichkeitsarbeit, medizinische Beratung und Nachbarschaftsprojekte retten Leben – gerade bei Risikogruppen.
Warum wir schneller lernen müssen, mit Hitze umzugehen
Die Prognosen sind eindeutig: Ohne gezielte Maßnahmen könnten hitzebedingte Todesfälle bis zum Ende des Jahrhunderts jene durch Kälte übersteigen. Und das nicht nur in Südeuropa. Auch Mitteleuropa ist nicht sicher – wie die Hitzesommer 2018, 2019 und 2022 eindrücklich zeigten.
Die Herausforderung ist, dass Hitze nicht wie ein Unwetter kommt und geht. Sie bleibt – über Wochen. Sie trifft ganze Gesellschaften – aber nicht alle gleich. Und sie lässt sich nicht einfach abschalten.
Deshalb braucht es ein Umdenken. Und es braucht Mut, neue Wege zu gehen.
Von der Reaktion zur Prävention
Der Umgang mit Hitze darf nicht länger reaktiv sein. Es reicht nicht, erst Maßnahmen zu ergreifen, wenn die Krankenhäuser überfüllt und die Wasserspeicher leer sind. Prävention muss zur Priorität werden. Dafür braucht es:
- Forschung und Daten: Damit wir wissen, wo Verwundbarkeiten liegen und welche Maßnahmen wirken.
- Politischen Willen: Damit Gesetze, Investitionen und Standards geschaffen werden, die langfristig schützen.
- Zivilgesellschaftliches Engagement: Damit jeder Mensch weiß, wie er sich schützen kann – und andere schützt.
Es ist Zeit, Hitze ernst zu nehmen
Wenn Europa weiter so schnell heißer wird wie bisher, wird Hitze bald zu unserem größten Gesundheitsrisiko. Aber es gibt Hoffnung. Denn die Werkzeuge liegen längst bereit – wir müssen sie nur einsetzen.
Und vielleicht, ja vielleicht, stehen wir auch hier vor einem Wendepunkt. Einer Phase, in der wir lernen, nicht nur auf Kälte zu reagieren, sondern Hitze aktiv zu gestalten. Mit grünen Städten, klugen Gebäuden, starker Solidarität – und der Entschlossenheit, die Zukunft nicht verbrennen zu lassen.
Von Andreas M. B.