Stell dir vor, es regnet tagelang in Nigeria, und plötzlich steht ein ganzes Dorf unter Wasser. Gleichzeitig brennen in Kalifornien wieder einmal die Wälder – ein ganzes Tal wird evakuiert. Zwei Katastrophen, zwei Kontinente, aber ein gemeinsamer Nenner: der Klimawandel.
Oder?
Wenn man Dr. Friederike Otto, einer der führenden Stimmen der Klimawissenschaft, zuhört – und das sollte man unbedingt – dann wird klar: Das wahre Problem sind nicht nur steigende Temperaturen, sondern eine jahrhundertealte Geschichte von Ungleichheit, Ausbeutung und politischer Blindheit. Der Klimawandel ist eben nicht bloß ein physikalisches Phänomen, sondern ein Brennglas, das soziale Missstände unbarmherzig sichtbar macht.
Wenn Naturkatastrophen gar nicht so natürlich sind
Früher hieß es: Über den Einfluss des Klimawandels auf einzelne Extremereignisse könne man nichts sagen. Technisch zu kompliziert, wissenschaftlich zu vage. Doch diese Zeiten sind vorbei. Heute weiß man: Wir können es sehr wohl messen – und zwar mit einer Präzision, die sich vor keinem Thermometer verstecken muss.
Otto und ihr Team analysieren, ob Wetterextreme wie Hitze oder Starkregen durch den Klimawandel verstärkt wurden. Ihre Forschungsmethode nennt sich „Attributionsforschung“. Klingt trocken – ist aber explosiv. Denn sie verbindet Klimadaten mit sozialen Fakten, wie Armut, Infrastruktur oder politischen Entscheidungen. Genau hier beginnt das große Ganze.
Warum also wird eine Überschwemmung in München eher zur Versicherungssache, während sie in Nigeria zur humanitären Katastrophe mutiert?
Die Antwort ist brutal einfach: Weil dort Menschen leben, die weder Schutz noch Hilfe bekommen – und oft nie bekommen haben.
Drei Zutaten für eine Katastrophe
Ein Wetterextrem wird erst dann zur Katastrophe, wenn drei Dinge zusammenkommen:
- Ein Naturereignis – wie Starkregen oder Dürre.
- Eine Exposition – also Menschen und Güter, die im Weg stehen.
- Eine Verletzlichkeit – oft bedingt durch Armut, schlechte Infrastruktur oder mangelnden Zugang zu Wissen.
Wenn einer dieser Faktoren besonders ausgeprägt ist, wird’s gefährlich. Wenn alle drei zusammenkommen – wird’s tödlich.
Wie war das 2022 in Westafrika?
Heftige Regenfälle, verstärkt durch den Klimawandel. Dazu ein Damm in Kamerun, der große Mengen Wasser freigab. Und eine nie gebaute Gegeninfrastruktur in Nigeria, die eigentlich hätte schützen sollen. Ergebnis: Über 30 Millionen Menschen betroffen – viele davon mit kaum einer Chance, ihr Hab und Gut und manchmal sogar ihr Leben zu retten.
Die vergessene Hälfte der Wahrheit
Wenn man heute über Extremwetter spricht, hört man oft: „Der Klimawandel ist schuld.“ Ja, schon – aber eben nicht nur. Oft ist es die fehlende Vorbereitung, die schlechten Straßen, die marode Stromversorgung oder das jahrzehntelange Fehlen politischer Verantwortung.
Und ganz ehrlich: Ist es nicht bizarr, dass man in westlichen Medien fast nichts darüber liest?
Dass eine Dürre in Madagaskar mehr mit schlechter Regierungsführung und globaler Ungerechtigkeit zu tun hat als mit Klimagasen, scheint nicht in die Schlagzeilen zu passen.
„Natürliche“ Katastrophen? Geschenkt.
Der Begriff „Naturkatastrophe“ ist nicht nur überholt – er verschleiert die Wahrheit. Denn er suggeriert, dass solche Ereignisse Schicksal seien, unvermeidlich, gottgegeben. Doch die wahren Ursachen liegen meist im System.
Otto bringt es auf den Punkt: Wenn etwa in traditionellen Gesellschaften schwangere Frauen bei 40 Grad draußen auf dem Feld arbeiten müssen, weil das eben „Frauenarbeit“ ist – dann ist das nicht Natur, sondern strukturelle Gewalt.
Wer trägt hier die Verantwortung?
Kolonialismus in neuem Gewand
Die Welt ist nicht einfach „ungleich“ geworden. Sie wurde gezielt so gestaltet. Koloniale Strukturen, patriarchale Systeme und wirtschaftliche Ausbeutung haben über Jahrhunderte hinweg festgelegt, wer profitiert – und wer leidet.
Das zieht sich durch bis in die Klimaforschung selbst. Noch immer dominieren weiße Männer aus dem globalen Norden mit naturwissenschaftlichem Fokus die Debatte. Ihre Studien behandeln meist die physikalischen Ursachen – nicht aber die sozialen Folgen. Und so bleiben viele wichtige Fragen auf der Strecke.
Warum fehlen uns eigentlich belastbare Zahlen zu „Loss and Damage“ – also den Schäden und Verlusten, die der globale Süden durch den Klimawandel erleidet?
Vielleicht, weil es nie Priorität hatte?
Freiheit durch fossile Brennstoffe?
Hier ein kleiner Realitätscheck:
Wir erzählen uns seit Jahrzehnten, dass Kohle und Öl uns Wohlstand, Demokratie und Freiheit gebracht hätten. Aber was, wenn wir diese Geschichte falsch erzählt haben? Oder nur zur Hälfte?
Denn wenn man ehrlich ist, dann haben nicht alle davon profitiert. Im Gegenteil: Viele Menschen im globalen Süden zahlen seit Generationen die Rechnung für einen „Fortschritt“, den sie nie mitgestalten durften.
Das Problem liegt nicht allein im CO₂ – es liegt im System
Und jetzt mal ehrlich: Warum handeln wir nicht entschiedener?
Vielleicht, weil viele von uns tief in einer Erzählung stecken, die uns einredet, dass Veränderung gleichbedeutend mit Verzicht ist. Dass Klimaschutz automatisch Einschränkung bedeutet – und nicht etwa mehr Gerechtigkeit, bessere Luft, sichere Städte.
Was wäre, wenn wir anfangen würden, den Klimawandel nicht als Bedrohung unseres Wohlstands zu sehen, sondern als Chance, unsere Gesellschaft neu zu denken?
Wer entscheidet – und für wen?
Die vielleicht wichtigste Frage lautet: Wer trifft eigentlich die Entscheidungen?
Wenn globale Klimapolitik weiterhin von denen gemacht wird, die am wenigsten verlieren – dann bleibt sie ein Spiel der Interessen. Doch Klimagerechtigkeit beginnt dort, wo die Betroffenen mitreden dürfen. Und nicht nur als Fotomotiv auf UN-Konferenzen.
Das bedeutet auch: Wir brauchen neue Allianzen. Zwischen Wissenschaft und Gesellschaft. Zwischen Physik und Soziologie. Zwischen globalem Norden und Süden.
Kein „Kollaps“, sondern ein Weckruf
Der Klimawandel bringt das System nicht zum Einsturz – er legt offen, wie fragil es ohnehin schon war. Und er stellt eine unbequeme Frage: Wollen wir wirklich weitermachen wie bisher – mit ein bisschen grüner Kosmetik und viel schlechtem Gewissen?
Oder nutzen wir diesen Moment, um endlich gerechter zu werden?
Wer glaubt, das sei naiv, unterschätzt, was alles möglich wird, wenn Menschen gemeinsam handeln. Nicht irgendwann – sondern jetzt.
Von Andreas M. B.