Man sieht sie nicht, man hört sie nicht – und doch sind sie da.
Unsichtbar, still, aber gewaltig: marine Hitzewellen.
In den vergangenen Jahren haben sich diese Hitzeschübe in den Weltmeeren dramatisch gehäuft. Das Meer, lange Zeit der verlässliche Puffer unseres Planeten, bekommt zunehmend selbst Fieber. Und das bleibt nicht folgenlos. Neue Studien zeigen: Diese Temperaturspitzen im Ozean könnten jenen Mechanismus ins Wanken bringen, der seit Jahrmillionen das globale Klima stabilisiert – die biologische Kohlenstoff-Pumpe.
Was bedeutet das? Im Grunde geht es um nichts weniger als das Rückgrat unseres Klimasystems.
Der unsichtbare Motor unter der Oberfläche
Stellen wir uns den Ozean als gigantische Lunge der Erde vor. Rund ein Viertel des vom Menschen ausgestoßenen Kohlendioxids nimmt er auf – leise, unspektakulär, aber mit enormer Wirkung. Die biologische Kohlenstoff-Pumpe ist dabei so etwas wie der Verbrennungsmotor dieser Lunge.
So funktioniert es:
An der Meeresoberfläche leben Abermilliarden mikroskopisch kleiner Pflanzen – das Phytoplankton. Diese winzigen Organismen betreiben Photosynthese, sie binden CO₂ und verwandeln es in organische Materie. Ein Teil davon wird von Zooplankton gefressen, ein anderer sinkt in die Tiefe – als kleine, unscheinbare Partikel, die Kohlenstoff mit sich nehmen. In mehreren Hundert Metern Tiefe lagert sich dieser Kohlenstoff dann langfristig ab, fern von der Atmosphäre.
So entsteht ein gigantischer Kreislauf – ein stiller Motor, der Hitze abführt, Klimagase bindet und das planetare Gleichgewicht stabil hält.
Doch dieser Motor beginnt zu stottern.
Der „Blob“: Als der Pazifik kochte
Ein besonders eindrucksvolles Beispiel lieferte der Golf von Alaska. Zwischen 2013 und 2015 stieg dort die Wassertemperatur um bis zu 3 Grad über den Durchschnitt – ein Phänomen, das Forschende später schlicht „The Blob“ nannten.
Und der Name passt: eine riesige, zähe Wärmeglocke, die wie ein Deckel auf dem Nordpazifik lag.
Klingt harmlos? War es nicht.
Der „Blob“ löste massive Veränderungen in der Meeresbiologie aus. Das Gleichgewicht der Mikroorganismen verschob sich. Große, kohlenstoffreiche Algenarten verschwanden, kleinere Arten – winzig, aber anpassungsfähig – breiteten sich aus. Das Ergebnis: Weniger Biomasse sank in die Tiefe. Viel blieb in der sogenannten Twilight-Zone, jener geheimnisvollen Übergangsschicht zwischen 200 und 400 Metern Tiefe, hängen.
Was das bedeutet? Das gebundene CO₂ blieb länger dort, wo es leicht wieder freigesetzt werden kann – näher an der Oberfläche. Die Kohlenstoffpumpe lief weiter, aber weniger effizient, fast wie ein Motor, dem der Treibstoff ausgeht.
Wenn das Meer zum Patienten wird
Forschende vergleichen marine Hitzewellen mittlerweile mit Fieberattacken eines geschwächten Organismus. Der Körper, sprich: das Meer, kämpft gegen Überhitzung. Doch im Gegensatz zu uns kann es nicht schwitzen oder sich abkühlen.
Was folgt, ist ein Kaskadeneffekt:
Steigende Temperaturen verändern nicht nur die Artenzusammensetzung, sondern auch die chemischen und physikalischen Prozesse im Wasser. Sauerstoffgehalt sinkt, Stoffwechselraten steigen, mikrobielles Leben explodiert – und der Ozean atmet mehr CO₂ aus, als unserer Erde guttut.
Die jüngste Studie von MBARI und Partnerinstituten (Nature Communications, Oktober 2025) hat diese Prozesse erstmals in beeindruckender Detailtiefe vermessen. Mit autonomen Sensoren, Unterwasser-Drohnen und modernster Modellierung wurde sichtbar, wie stark Hitzewellen selbst in hunderten Metern Tiefe wirken.
Erschreckend: Rund ein Drittel dieser Wärmewellen bleibt unter der Oberfläche – unsichtbar für Satelliten, unbemerkt für das menschliche Auge.
Der schwächelnde Puffer unseres Planeten
Der Ozean galt lange als verlässlicher Klimapuffer. Doch wenn sich seine Pufferleistung abschwächt, kippt das System.
Denn weniger CO₂-Aufnahme bedeutet: Mehr Treibhausgas in der Atmosphäre, stärkere Erwärmung, häufigere Extremwetter.
Ein Teufelskreis, der – wie wir inzwischen wissen – kein Zukunftsszenario ist.
Und das betrifft nicht nur ferne Regionen. Europa, besonders das Mittelmeer und der Nordostatlantik, zeigt längst ähnliche Tendenzen. 2023 erlebte das Mittelmeer seine wärmste Periode seit Beginn der Messungen. Ganze Seegraswiesen starben ab, Algenblüten explodierten, Fischbestände verschoben sich.
Wie viele Alarmsignale braucht es noch, bis wir verstehen, dass das Meer längst Teil der Klimakrise ist – nicht nur Opfer, sondern auch Verstärker?
Von winzigen Zellen und globalen Konsequenzen
Manchmal entscheidet sich das Schicksal des Planeten im Mikrometerbereich.
Wenn kleinere Phytoplankton-Arten dominieren, verändert sich der gesamte Kohlenstofffluss. Ihre Partikel sinken langsamer, zerfallen schneller, werden häufiger von Mikroben zersetzt.
Die „Effizienz“ des biologischen Pumpmechanismus nimmt ab – und zwar messbar.
Eine Forscherin aus Brest formulierte es kürzlich so: „Wir sehen, dass ein winziger Unterschied in der Zellgröße eine große Wirkung auf den Kohlenstoffhaushalt des Meeres hat. Das ist, als würde man Sand in ein präzises Uhrwerk streuen.“
Diese feinen biologischen Verschiebungen haben also gewaltige klimatische Konsequenzen. Und sie machen deutlich, wie eng Biologie, Chemie und Physik im Meer verwoben sind.
Die unterschätzte Unsicherheit in Klimamodellen
Klimamodelle gelten als das Rückgrat der globalen Klimapolitik. Aber sie beruhen auf Annahmen – und eine davon lautet: Der Ozean bleibt als CO₂-Senke weitgehend stabil.
Doch was, wenn das nicht stimmt?
Wenn marine Hitzewellen die Produktivität der Meere mindern, verändern sich auch die Rückkopplungen im Klimasystem. CO₂, das eigentlich in die Tiefe wandern sollte, verbleibt länger in der Atmosphäre. Das wiederum befeuert die Erwärmung – die weitere Hitzewellen begünstigt.
Ein klassischer Rückkopplungseffekt, aber diesmal im schlimmsten Sinne.
Forschende arbeiten deshalb daran, die biologischen und physikalischen Parameter der Meere neu zu justieren. Bessere Sensorik, Echtzeitbeobachtungen und KI-gestützte Auswertungen sollen künftig helfen, diese Prozesse präziser zu erfassen.
Die gute Nachricht: Technologisch ist das heute möglich. Die schlechte: politisch und finanziell hinkt man noch deutlich hinterher.
Europas Rolle – und Verantwortung
Europa hat eine der längsten Meeresküsten der Welt. Von der Bretagne bis Zypern, von Norwegen bis Portugal – Millionen Menschen leben am und vom Meer.
Und doch findet das Thema Ozean-Erwärmung im öffentlichen Diskurs kaum Beachtung.
Während in Paris oder Berlin über CO₂-Steuern gestritten wird, erhitzen sich die Küstengewässer fast unbemerkt. Die Folge: schrumpfende Fischbestände, sterbende Korallen, gefährdete Küstenökosysteme.
Frankreich hat mit seinen Forschungsinstituten in Brest, Villefranche-sur-Mer und Toulon enormes Wissen – doch es fehlt an internationaler Verzahnung. Europa braucht, so banal es klingt, einen gemeinsamen Plan für den Schutz seiner marinen Kohlenstoffsysteme.
Denn wer den Ozean schützt, schützt das Klima.
Zwischen Hoffnung und Frust
Ich gebe zu – manchmal frustriert mich das Thema zutiefst.
Wir wissen so viel. Wir haben Sensoren, Modelle, Supercomputer, Satelliten.
Und doch schaffen wir es nicht, die Konsequenzen in politisches Handeln zu übersetzen.
Aber dann sehe ich junge Forschende, die mit Leidenschaft an Bord kleiner Forschungsschiffe Daten sammeln, Mikroben zählen, Sedimentproben ziehen – oft bei Windstärke 8, mitten im Atlantik. Und ich denke: Vielleicht liegt genau darin die Hoffnung.
Denn jeder Datensatz, jedes neue Verständnis dieser marinen Hitzewellen bringt uns einen Schritt näher an Lösungen.
Was jetzt zählt
Wir müssen lernen, den Ozean nicht nur als Opfer der Erderwärmung zu betrachten, sondern als aktive Komponente des Klimasystems.
Das heißt: gezielte Überwachung von Meereshitzewellen, Förderung von Tiefseeforschung, Integration biologischer Pump-Prozesse in Klimamodelle und politische Strategien, die auch das Unsichtbare einbeziehen.
Und ja – das bedeutet auch, unbequeme Fragen zu stellen:
Wie lange kann der Ozean noch kompensieren, was wir an Land versäumen?
Wie viel Puffer bleibt uns, bevor sich der Motor endgültig überhitzt?
Noch läuft er, der Klimamotor. Aber er stottert. Und wer schon einmal ein Auto mit überhitztem Motor gefahren hat, weiß: Irgendwann bleibt es stehen.
Von Andreas M. Brucker
Quellen
- MBARI / Nature Communications (2025): Marine heatwaves reshape ocean food webs and reduce biological carbon export
- ScienceDaily (2025): Ocean heatwaves are breaking Earth’s hidden climate pump
- Nature Geoscience (2024): Frequent marine heatwaves hidden below the surface
- Reuters (2024), The Guardian (2025), LiveScience (2025)

