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Die Hitze flirrt über dem Asphalt, und aus dem Schatten der Platanen tönt ein Sommergeräusch, das viele nur aus dem tiefsten Süden Frankreichs kennen: das Zirpen der Grillen. Doch wer in diesen Tagen durch Lyon schlendert, hört es plötzlich ganz nah – mitten im Herzen der Stadt.

Was ist da los?

Zirpen in der Stadt – ein Sommerflirt oder ein neues Normal?

Bis vor Kurzem galt ihr Gesang als akustisches Symbol für die Provence, für Lavendelfelder, Pastis und endlose Feriennachmittage. Jetzt aber taucht er in Lyon auf – und nicht nur einmal, sondern gleich in mehreren Vierteln: Croix-Rousse, Presqu’île, Saint-Just, La Mulatière.

Klingt nach einem charmanten Zufall? Leider nicht.

Die zunehmende Präsenz der Cigales ist ein Echo dessen, was sich im Hintergrund längst verändert: unser Klima. Es sind keine verirrten Einzeltiere – es ist eine neue Realität.

Klimawandel auf sechs Beinen

Zugegeben: Ein Insekt allein macht noch keinen Klimawandel. Aber wenn wärmeliebende Arten plötzlich Orte besiedeln, die sie früher mieden, sollten wir hellhörig werden. Die Grillen lieben Temperaturen über 30 Grad – und Lyon liefert diese inzwischen verlässlich jeden Sommer.

Hugues Mouret, Naturforscher bei der Organisation Arthropologia, bestätigt: Einzelne Arten gab’s hier schon länger, aber jetzt haben sie richtig Aufwind bekommen. Kein Wunder – wenn die Winter immer milder werden und Pflanzkübel mit südlichen Gewächsen (inklusive Larven im Gepäck) aus dem Urlaub mitgebracht werden, bekommen die Tiere quasi eine Einladung zur Stadtbesichtigung.

Klingt absurd? Ist aber Alltag geworden.

Mehr Grün, mehr Zirpen?

Auch wenn’s paradox klingt: Die zunehmende Begrünung der Stadt fördert die Cigales zusätzlich. Und ja – die Reduktion von Pestiziden in der Metropole Lyon seit 2017 tut ihr Übriges. Was gut für die Biodiversität ist, bringt eben auch neue (lautstarke) Gäste mit sich.

Da stellt sich die Frage: Freuen wir uns über dieses Zeichen von mehr Natur oder fürchten wir uns vor dem, was es bedeutet?

„C’est une vraie cacophonie“ – zwischen Urlaubsfeeling und Lärmbelästigung

Nicht alle finden das neue Sounddesign der Stadt berauschend. Klar – für manche ist es ein Stück Provence mitten in der Großstadt. Andere hingegen stören sich am Lärm, der stellenweise so laut wie ein Staubsauger sein kann: 80 Dezibel, gemessen an manchen Sommerabenden.

Vor allem in den dicht bebauten Quartieren knallt das Zirpen ordentlich rein. Die Rede ist von einer „echten Kakophonie“ – ein akustisches Durcheinander, das für sensible Ohren schnell nervtötend wird.

Aber Moment: Ist das wirklich schlimmer als Autolärm oder kreischende Motorroller?

Wenn die Natur vor unserer Haustür Alarm schlägt

Die Grillen in Lyon sind kein Zufallsfund. Sie sind ein Beispiel dafür, wie sich Arten an veränderte Umweltbedingungen anpassen – und wie der Klimawandel direkt vor unserer Haustür sichtbar (und hörbar) wird. Es braucht keine Gletscher, die schmelzen, keine Eisbären, die treiben. Es reicht, wenn es im Park plötzlich zirpt wie an der Mittelmeerküste.

Dabei geht’s um mehr als nur um Insekten. Es geht um das große Ganze: Welche Tiere und Pflanzen können bleiben? Welche verschwinden? Welche kommen neu dazu – und was macht das mit unserem Ökosystem, mit unseren Städten, mit unserem Alltag?

Ein bisschen Hoffnung – und viel Verantwortung

Dass die Grillen überhaupt in Lyon überleben, liegt auch daran, dass sich die Stadt verändert hat. Weniger Chemie, mehr Grün, neue Rückzugsorte für Insekten. Das zeigt: Veränderung ist möglich – wenn man will.

Aber: Der Grund, warum sie überhaupt kommen, ist die Hitze. Und das ist alles andere als romantisch. Denn hinter dem Zirpen steht eine Realität, die vielen Angst macht – zu Recht.

Die Frage ist also nicht nur, ob uns die Cigales stören. Sondern: Was sagen sie uns über uns selbst?

Naturbeobachtung als Frühwarnsystem

Gerade jetzt, wo sich vieles so schnell wandelt, wird die Beobachtung von Arten zum entscheidenden Werkzeug. Was früher als Hobby von Naturfreunden galt, ist heute ein wichtiges Mittel der Klimaforschung. Wo tauchen neue Tiere auf? Wie verändern sie unser Stadtleben? Was bedeutet das für die kommenden Jahre?

Die Antwort liegt sicher nicht im Lehrbuch, sondern oft auf unserem Balkon.

Ein letztes Wort – und ein Ohr voller Fragen

Vielleicht ist das Zirpen der Grillen in Lyon mehr als nur ein Klang. Vielleicht ist es ein Ruf – nicht nach Süden, sondern nach Umdenken. Nach echter Verantwortung, nach gemeinsamer Lösungssuche, nach mehr Respekt für das, was uns umgibt.

Oder, wie es ein älterer Passant auf einer Strasse im Viertel Croix-Rousse formulierte: „Wenn selbst die Cigales umziehen, dann läuft doch irgendwas schief, oder?“

Ganz ehrlich: Er hat recht.

Von Andreas M. Brucker


Quellen:

  • Le Progrès: „Une vraie cacophonie“ : le chant des cigales envahit Lyon – Link
  • Tonic Radio: Réchauffement climatique : les cigales chantent à Lyon – Link
  • TF1 INFO: Pourquoi les cigales se font de plus en plus entendre à Lyon – Link
  • Le Figaro: Réchauffement climatique ou présence ancienne ? À Lyon, les cigales s’invitent en ville – Link