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Jamaika duckt sich. Die Dominikanische Republik zählt bereits ihre Toten. Und der Rest der Karibik? Hält den Atem an.

Hurrikan Melissa, ein Sturm wie aus dem Katastrophenfilm, hat sich in nur wenigen Tagen zu einem historischen Extremereignis hochgeschraubt. Kategorie 5. 282 Stundenkilometer. Regenmassen, die Häuser wegreißen und Straßen zu Flüssen machen. Und das alles über einem Meer, das deutlich zu warm ist – ein flüssiger Treibstoff für eine Katastrophe mit Ansage.


Die Monsterwelle kommt nicht – sie ist schon da

Melissa ist kein gewöhnlicher Hurrikan. Das hat schon die erste Satellitenaufnahme gezeigt: ein Auge so klar, dass es fast unwirklich wirkt – als würde der Sturm selbst in die Kamera blicken. Und dieses Auge steuert mit stoischer Ruhe direkt auf Jamaika zu. Langsam, aber unaufhaltsam.

Das National Hurricane Center spricht von einem „katastrophalen Sturm“. Und das ist noch höflich formuliert. Jamaikas Premierminister Andrew Holness brachte es bei einer Pressekonferenz auf den Punkt: „Für diesen Sturm gibt es keine Infrastruktur, die standhält.“ Punkt.


Warum trifft Melissa so heftig?

Ganz ehrlich: Der Ozean spielt verrückt.

In der Karibik liegt die Wassertemperatur derzeit 2 bis 3 Grad Celsius über dem Durchschnitt. Klingt harmlos? Ist es nicht. Tropische Stürme leben von warmem Wasser – es ist ihre Energiequelle, ihr Powerdrink. Je wärmer, desto stärker. Und Melissa? Hat sich genau diese Bedingungen zunutze gemacht.

Noch ein Faktor kommt hinzu: die Bewegungslosigkeit. Der Sturm zieht extrem langsam – wie ein Raubtier, das sein Opfer fixiert. Das bedeutet: Mehr Zeit für Zerstörung, mehr Regen, mehr Wind, mehr Chaos.

Und wer jetzt denkt: „Das ist halt Wetter“ – irrt gewaltig.


Wenn der Klimawandel zuschlägt

Melissa zeigt mit voller Wucht, wovor Klimaforscher schon lange warnen: Der Klimawandel macht Hurrikans intensiver, zerstörerischer – und heimtückischer. Nicht unbedingt häufiger, aber gefährlicher. Warum?

Weil wärmere Ozeane nicht nur die Entstehung solcher Stürme begünstigen, sondern auch ihre Intensivierung beschleunigen. Fachleute nennen das „Rapid Intensification“ – eine rasante Verstärkung innerhalb kürzester Zeit. Genau das ist bei Melissa passiert.

Es ist, als ob jemand den Sturm-Boost-Knopf gedrückt hätte.


Jamaika: Das Epizentrum der Angst

Die Insel steht still. Tausende Menschen haben ihre Häuser verlassen, viele flüchten zu Verwandten, andere in Notunterkünfte. Das Militär hilft bei der Evakuierung. Doch die Angst reist mit – wohin soll und kann man gehen?

Besonders prekär: In Jamaikas Süden drohen Regenmengen von bis zu einem Meter pro m2 – kein Tippfehler. Das ist mehr als das Doppelte, was Hamburg im ganzen Jahr abbekommt. Dazu noch die Berge: Steile Hänge, oft entwaldet, verwandeln sich bei Starkregen in tödliche Rutschbahnen.

Wer schon einmal in Jamaika war, kennt die enge Infrastruktur. Viele Straßen führen durch Täler oder an Berghängen entlang – was, wenn diese wegbrechen?


Die Dominikanische Republik und Haiti: Früh getroffen

Schon bevor das Auge von Melissa ein Land erreichte, sorgten die äußeren Regenbänder für Chaos. In Haiti und der Dominikanischen Republik wurden die ersten Todesopfer gemeldet – durch Erdrutsche, Überschwemmungen, weggespülte Dörfer.

Besonders Haiti ist verwundbar: Nach dem Erdbeben 2010 und politischen Krisen ist das Land ohnehin in Dauerkrise. Ein Sturm wie Melissa trifft nicht nur Dächer – er trifft offene Wunden.


Kuba: Massen-Evakuierung und bange Blicke

Mehr als 500.000 Menschen wurden in Kuba vorsorglich evakuiert. Und das will was heißen: Kuba ist sturm-erprobt. Das Land hat eines der besten Katastrophenschutzsysteme der Region. Aber auch dort fragt man sich jetzt: Reicht das?

Wenn selbst Kuba nervös wird, sollte uns das zu denken geben.


Der Sturm trifft alle – aber nicht alle gleich

Melissa ist mehr als nur ein Wetterereignis. Sie ist ein Brennglas. Für Ungleichheit. Für koloniale Altlasten. Für ein Wirtschaftssystem, das Inselstaaten mit voller Wucht in die Klimakrise drückt, während sie am wenigsten dazu beigetragen haben.

Warum trifft es ausgerechnet die Karibik immer wieder? Warum haben Länder wie Jamaika, Haiti oder Dominica nicht die Ressourcen, um sich zu schützen? Die Antwort ist unbequem – aber sie liegt in unserer Geschichte und in unserer Gegenwart.


Globale Folgen? Ja, klar!

Du lebst nicht in der Karibik? Du denkst, das betrifft dich nicht?

Falsch gedacht. Die Folgen eines Mega-Sturms wie Melissa reichen weit: Versorgungsengpässe, Tourismus-Einbrüche, Anstieg der Fluchtbewegungen, steigende Versicherungskosten, globale Lieferkettenprobleme – das alles gehört zum Dominoeffekt solcher Ereignisse.

Wenn ein Inselstaat nach dem anderen untergeht oder sich ständig neu aufbauen muss, fehlt nicht nur wirtschaftliche Stabilität. Es fehlt Zukunft.


Der Sturm als Symbol – und Weckruf

Wir dürfen Melissa nicht nur als Naturkatastrophe sehen. Dieser Sturm ist eine Mahnung. An die Politik. An die Wissenschaft. An jeden Einzelnen.

Brauchen wir mehr Forschung zu tropischen Wirbelstürmen? Unbedingt. Aber wir brauchen auch Mut – politisch, gesellschaftlich, international. Anpassung an den Klimawandel ist kein Luxus. Sie ist Überlebensstrategie.

Und sie beginnt nicht in zehn Jahren. Sie beginnt jetzt.


Was jetzt zählt

Die kommenden 48 Stunden werden auf Jamaika über Leben und Tod entscheiden. Über Häuser, Existenzen, Erinnerungen. Und darüber, ob wir endlich begreifen, dass wir nicht die Natur beherrschen – sondern mit ihr leben müssen.

Wäre es nicht klug, die globalen Emissionen endlich konsequent zu senken – bevor noch mehr „Melissas“ über uns herziehen?


Persönliche Gedanken zum Schluss

Ich schreibe diesen Text mit schwerem Herzen. Melissa ist nicht der erste Sturm dieser Art, und er wird nicht der letzte sein. Doch bei jedem neuen Extremereignis frage ich mich: Wie viele Weckrufe braucht es noch?

Gleichzeitig bin ich überzeugt: Es ist nicht zu spät. Technologisch, wissenschaftlich und gesellschaftlich haben wir alles, was wir brauchen, um die Klimakrise abzufedern. Was fehlt, ist der Wille. Und der kommt – manchmal – aus genau solchen Momenten wie jetzt.

Von Andreas M. Brucker