Wer glaubt, Naturkatastrophen kommen nur in Form von Hurrikans, Bränden oder Überschwemmungen daher, hat noch nie vom langsamen Tod eines Sees gehört. Kein tosender Sturm, kein Beben – nur Stille. Und dann? Giftiger Staub, tote Vögel, kollabierende Ökosysteme.
Die Rede ist vom Great Salt Lake in Utah – dem größten Salzsee der westlichen Hemisphäre. Und ja, er stirbt. Langsam, sichtbar und, wenn nichts passiert, unumkehrbar.
Ein halbes Jahrhundert Durst
Noch vor wenigen Jahrzehnten bedeckte der Great Salt Lake eine Fläche größer als das gesamte Bundesland Sachsen-Anhalt. Heute liegt mehr als die Hälfte seines Beckens trocken. Über 800 Quadratmeilen Seeboden – das sind mehr als 2.000 Quadratkilometer – sind der Sonne ausgeliefert und schicken bei Wind arsenbeladenen Staub in Richtung Salt Lake City und darüber hinaus.
Warum das niemanden interessiert? Weil diese Krise nicht mit einem Knall kam. Sie kam schleichend. Und plötzlich war sie da.
„Schnelle Krisen bekommen mehr Aufmerksamkeit als langsame“, sagt Brian Steed, Utahs eigens ernannter „Great Salt Lake Commissioner“. Und 2022 war der Moment, an dem selbst die konservative Landesregierung eingestand: Wir haben ein Problem.
Notfallgesetze und halbe Sachen
Einige Abgeordnete schlugen Alarm. Joel Ferry, selbst Landwirt, sprach gar von einer „Umwelt-Atombombe“. Es folgte ein politischer Aktionismus, der in einem Haufen Gesetze gipfelte – viele davon gut gemeint, aber zu wenig konsequent umgesetzt.
Zwar investierte Utah über eine Milliarde Dollar in Wassersparprogramme. Doch große Nutzer wie Landwirtschaft und Immobilienentwicklung blieben weitgehend verschont. Alfalfa – jenes unscheinbare Tierfutter, das gigantische Wassermengen verschlingt – bleibt weiter das Rückgrat der Agrarwirtschaft. Kein Wunder, denn Kühe sind für Utah ein Geschäft mit Tradition.
Die Rechnung für’s Zögern
Wer heute die wirtschaftlichen Folgen eines trockenen Great Salt Lake ignoriert, spielt mit dem Feuer. Der See ist nicht nur Lebensraum für Millionen Zugvögel. Seine Sole enthält Mineralien, die in Getränkedosen, Düngemitteln und der globalen Garnelenzuchtindustrie verwendet werden. Stirbt der See, verliert die Region nicht nur einen ökologischen Schatz, sondern auch einen Wirtschaftsmotor.
Und dann ist da noch der Staub. Staub, der Arsen, Blei und andere Schwermetalle enthält. Staub, der über Utah hinaus bis in benachbarte Bundesstaaten wehen könnte. Staub, der krank macht.
Klingt wie Science-Fiction? Ist aber Realität. Und zwar eine, die uns direkt in die Frage zwingt: Wie viel Naturverlust ist uns unser Lebensstil wert?
Ein System am Limit
Die Lage ist absurd: Utahs Wasser fließt eigentlich über drei Flüsse aus schmelzendem Gebirgsschnee in den Great Salt Lake – und verschwindet dann durch Verdunstung. Dabei bleibt das Salz zurück. Nur: Dieses Wasser wird längst vorher aufgebraucht. Etwa 70 Prozent davon durch Landwirtschaft, 17 Prozent in Städten. Der Rest? Kommt nie im See an.
Ein paar Lichtblicke gibt es: Landwirte erhalten staatliche Förderungen für effizientere Bewässerung. Es wurden Anreize geschaffen, überschüssiges Wasser zu „verleasen“ – also an den See zurückzugeben. Auch Naturschutzorganisationen wie Audubon Society und Nature Conservancy konnten durch solche Leasing-Modelle bereits wertvolle Feuchtgebiete sichern.
Aber: Von 2.000 betroffenen Bauern machen bisher nur eine Handvoll mit.
Warum tun sie nicht mehr?
Die Antwort ist vielschichtig. Einerseits gibt es kein verlässliches System, das die Wasserumleitung technisch kontrollieren kann – es fehlt an Transparenz. Andererseits herrscht Angst: Wer Wasser abgibt, riskiert seine wirtschaftliche Existenz. Und Wasser ist in Utah eben auch Eigentum.
Hinzu kommt: Wenn ein Bauer aufgibt, springen oft Investoren ein. Und dann entstehen auf dem ehemaligen Ackerland Häuser, Lagerhallen oder Golfplätze. Sprich: Das Wasser fließt nie zurück – sondern verdunstet einfach woanders.
„Wir wollen nicht, dass unsere Branche stirbt, nur um das Unvermeidliche hinauszuzögern“, sagt Landwirt Jason Westover. Klingt nüchtern. Ist aber genau das Dilemma.
Der politische Spagat
Utahs konservative Regierung will Wirtschaftswachstum – aber keine Regulierung. Gleichzeitig beteuert sie, alles Mögliche zu tun, um den See zu retten. Klingt widersprüchlich? Ist es auch.
Ein Beispiel: Die Inland Port Authority, eine staatliche Entwicklungsgesellschaft, fördert Industriezonen rund um den See – inklusive sensibler Feuchtgebiete. Zugleich flossen 40 Millionen Dollar in einen Naturschutzfonds. Ein Balanceakt, der oft in Richtung Beton kippt.
Der wohl größte Zielkonflikt besteht zwischen Umwelt- und Wohnungsbaupolitik. Utah wächst rasant – aber jeder neue Vorort verbraucht Wasser, das dem See fehlt. Ironie des Schicksals: Selbst das neue Gefängnis des Bundesstaats wurde auf trockenem Seeboden gebaut.
Der unsichtbare Gegner: Zeit
Die Analyse des Kommissars ist ernüchternd: Um den See in fünf Jahren auf ein gesundes Niveau zu bringen, müsste der Wasserverbrauch in der gesamten Region halbiert werden. Realistisch? Kaum. Steed plant deshalb mit einem 30-Jahres-Ziel.
Doch da ist ein Haken. Drei Jahrzehnte sind zu lang, wenn der See in fünf Jahren kippen kann. Ökologisch, wirtschaftlich, gesundheitlich – alles steht auf dem Spiel.
Und dann gibt es da noch die Klagen. Umweltgruppen wie das Center for Biological Diversity fordern per Gericht: Der Staat müsse per Gesetz handeln, nicht nur appellieren. Eine Richterin lehnte den Versuch des Bundesstaats, die Klage abzuschmettern, bereits ab.
Und jetzt?
Utah steht an einem Scheideweg. Entweder der Bundesstaat investiert konsequent in Wiederherstellung, Monitoring, Wasserleasing und Regulation – oder er verliert eines seiner wichtigsten Naturdenkmäler. Und mit ihm saubere Luft, Biodiversität, wirtschaftliche Stabilität.
Die Debatte muss raus aus Fachkreisen, raus aus Gerichtssälen – und rein in die Wohnzimmer der Menschen. Denn was nützt der schönste Garten, wenn der Staub vom toten See bald durch die Siedlung weht?
Der Great Salt Lake ist mehr als eine Landschaft. Er ist ein Mahnmal. Ein Spiegelbild unserer Zeit. Und vielleicht – mit etwas Mut und politischem Willen – auch ein Symbol für Wandel.
Autor: MAB