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Stell dir vor, du wachst in ein paar Jahrzehnten in einem Bergdorf in der Schweiz auf – und da, wo einst ein mächtiger Gletscher das Tal geformt hat, liegt nur noch Geröll und eine kahle Felswand. Kein Glitzern mehr, kein Knacken des Eises, kein Schmelzwasser, das plätschernd Richtung Tal rauscht.

Genau das ist nicht bloß Science-Fiction – sondern ein realistisches Szenario für das Jahr 2100.

Bereits heute befinden sich die Gletscher in der Schweiz im freien Fall. Innerhalb eines Jahrzehnts ist ein Viertel ihres Volumens verschwunden. Und Jahr für Jahr reiht sich neuer Extremverlust an den nächsten. Die Fakten? Kalt und hart – im Gegensatz zum Klima.


Über 1.000 Gletscher? Einfach weg.

Das Gletscherbeobachtungsnetzwerk GLAMOS und die ETH Zürich liefern Zahlen, die klingen, als stammten sie aus einem düsteren Klima-Thriller: Im Jahr 2025 verloren die Schweizer Gletscher erneut rund drei Prozent ihres verbliebenen Volumens – der viertgrößte Verlust seit Beginn der Aufzeichnungen.

Noch deutlicher: Über 1.000 kleine Gletscher existieren schlicht nicht mehr. Sie sind einfach – verschwunden. Aufgelöst im Zusammenspiel von schneearmen Wintern und Hitze-Sommern, wie der vergangene.

Und dabei reden wir nicht über ferne Regionen irgendwo am Polarkreis. Nein – das passiert gerade hier, in Mitteleuropa. Direkt vor unserer Haustür.


Winter ohne Schnee, Sommer mit Schmelzrekord

Was hat diesen dramatischen Rückgang ausgelöst?

Der Winter 2024/25 war ein Totalausfall in Sachen Schneefall – zumindest im Vergleich zum langjährigen Mittel. Vor allem im Nord- und Zentralgebirge fehlte es massiv an Neuschnee. Und Schnee, das wissen selbst Skitouristen, ist nicht nur schön anzusehen, sondern auch eine lebenswichtige Schutzschicht für das darunterliegende Gletschereis.

Fehlt diese weiße Decke, beginnt das Eis früher zu schmelzen – und das mit voller Wucht.

Bereits im Juni 2025 lag der sogenannte Null-Grad-Grenzwert stellenweise über 5.000 Meter. Das bedeutet: Sogar in Höhen, in denen früher selbst im Hochsommer Eis garantiert war, herrschten Plusgrade. Der Schmelzvorgang begann – viel zu früh, viel zu intensiv.

Das Resultat: Flächen unter 3.000 Metern Höhe lagen schon im Frühsommer frei. Und was passiert, wenn Gletscherflächen direkter Sonneneinstrahlung ausgesetzt sind? Genau – die Eisschmelze wird turbo-angeheizt.


Und das bleibt nicht folgenlos

Wer denkt, das Gletschersterben sei nur ein optisches Problem, irrt gewaltig.

Gletscher sind essenziell für den Wasserhaushalt – nicht nur der Alpen, sondern ganzer Regionen. Sie fungieren als natürliche Wasserspeicher, gleichen Niederschlagsschwankungen aus und sichern auch im Sommer stabile Wasserstände in Flüssen. Wenn diese Funktion wegfällt, wird es nicht nur für Ökosysteme eng – auch die Landwirtschaft, Wasserkraft und Trinkwasserversorgung geraten unter Druck.

Zudem bröckelt mit dem Eis auch der Fels. Gletscher fixieren Gebirgsstrukturen – verschwindet das Eis, verlieren Bergflanken ihre Stabilität. Das erhöht das Risiko für Murgänge, Steinschläge und Felsabbrüche dramatisch. Die Katastrophe von Blatten im Lötschental im Mai 2025 war da nur ein Vorgeschmack.

Ein weiteres Problem: Der Tourismus. Die Alpen ohne Gletscher? Für viele Gäste wäre das wie das Meer ohne Wasser – und für viele Regionen ein wirtschaftlicher Tiefschlag.


Ein Menetekel für die ganze Alpenregion

Die Entwicklungen in der Schweiz haben auch für Frankreich und den gesamten deutschsprachigen Alpenraum große Bedeutung.

Denn die Alpen sind ein zusammenhängendes System. Wenn in der Schweiz Gletscher verschwinden, trifft das Wasserkreisläufe, Wetterlagen und Ökosysteme weit über die Landesgrenzen hinaus. Gletscher in den französischen Alpen wie die Mer de Glace oder der Glacier Blanc verlieren ebenfalls rapide an Masse.

Der Rückgang stellt damit auch eine europäische Herausforderung dar – nicht nur für die Wissenschaft, sondern für Politik, Zivilgesellschaft und Wirtschaft.

Wie lange schauen wir noch zu?


Woran liegt’s wirklich?

Die Ursachen sind wissenschaftlich gut belegt:

  • Anstieg der Durchschnittstemperatur – vor allem in höheren Lagen überdurchschnittlich schnell.
  • Weniger Schneefall im Winter – durch veränderte Niederschlagsmuster.
  • Hitzewellen im Sommer – mit Temperaturen, die früher und länger über der Schmelzgrenze liegen.

Dazu kommen Rückkopplungseffekte: Schmelzende Gletscherflächen reflektieren weniger Sonnenlicht, absorbieren mehr Wärme – was wiederum die Schmelze beschleunigt. Ein Teufelskreis.


Alles verloren? Oder noch zu retten?

Jetzt mal ehrlich: Können wir den Rückzug der Gletscher überhaupt noch stoppen?

Die bittere Wahrheit lautet: Für viele kleine Gletscher ist es zu spät. Selbst wenn ab morgen keine einzige Tonne CO₂ mehr ausgestoßen würde – das bereits im System gespeicherte Klimasignal reicht aus, um den Rückgang fortzusetzen. Das Eis reagiert träge, aber unwiderruflich.

Doch das heißt nicht, dass alle Hoffnung dahin ist. Große Gletscher können durch konsequenten Klimaschutz zumindest stabilisiert oder ihre Schmelzrate verlangsamt werden. Es geht also nicht um „alles oder nichts“, sondern um Schadensbegrenzung – und das ist viel wert.

Denn jeder zusätzliche Zentimeter Eis, der bleibt, bedeutet stabileres Klima, besserer Wasserschutz und sicherere Berge.


Zwischen Wut, Hoffnung und Pflicht

Ganz persönlich? Es frustriert mich. Weil ich die Alpen liebe. Weil ich weiß, dass wir das Wissen, die Technik und die Ressourcen haben – und trotzdem weiter Kurs auf die Katastrophe halten.

Aber genau deshalb schreibe ich. Und genau deshalb höre ich nicht auf zu hoffen.

Denn die Zukunft der Gletscher ist auch ein Spiegelbild unserer Gesellschaft. Sie zeigt, ob wir in der Lage sind, gemeinschaftlich zu handeln – über Grenzen hinweg, wissenschaftlich informiert, sozial gerecht.

Von Andreas M. Brucker


Quellen: