Stell dir vor: Europa vor über 12.000 Jahren. Eiseskälte, zähe Nebelschwaden über kargen Landschaften, Mammuts stapfen durch Schneefelder – und mittendrin kleine Gruppen von Menschen, auf der Suche nach einem besseren Ort zum Leben. Keine Zelte mit Hightech-Isolierung, kein Supermarkt um die Ecke. Nur sie, ihr Mut, ihre Werkzeuge – und das Klima, das sich ständig veränderte.
Was passiert, wenn die Natur plötzlich nicht mehr das gibt, was man zum Überleben braucht?
Genau das wollten Forscherinnen und Forscher aus ganz Europa herausfinden. Unter der Leitung der Universität zu Köln haben 25 prähistorische Archäologen aus zwanzig europäischen Institutionen etwas Erstaunliches rekonstruiert: Wie unsere steinzeitlichen Vorfahren mit den extremen Klimaschwankungen am Ende der letzten Eiszeit umgingen – und warum viele von ihnen ihren angestammten Lebensraum aufgaben und ostwärts zogen.
Ein Tanz mit dem Klima: Der Jüngere Dryas
Die letzte große Kältephase – in der Fachsprache als „Jüngere Dryas“ bekannt – war keine sanfte Brise, sondern ein frostiger Schlag ins Gesicht. Zwischen 14.000 und 11.600 Jahren vor heute veränderten sich die klimatischen Bedingungen in Europa teils innerhalb weniger Jahrzehnte dramatisch. Trockener, kälter, unwirtlicher. Besonders die Menschen im Westen Europas mussten zusehen, wie ihre Lebensräume Stück für Stück unbewohnbarer wurden.
Aber: Statt tatenlos in ihren Höhlen zu hocken und auf bessere Zeiten zu warten, fingen viele Gruppen an, sich zu bewegen.
Und zwar Richtung Osten.
Aufbruch ins Unbekannte
Wieso ausgerechnet nach Osten? Die Gründe scheinen vielfältig. Zum einen boten einige östliche Regionen ein freundlicheres Mikroklima. Milde Winter, etwas mehr Vegetation, reichhaltigere Fauna – für damalige Verhältnisse ein kleiner Jackpot. Zum anderen dürfte auch die Tierwelt mitgespielt haben. Dort, wo Rentiere, Wildpferde und andere Beutetiere noch zahlreich durch die Steppe zogen, war die Nahrungsversorgung gesichert. Also: Rucksack – pardon, Ledertasche – gepackt, Feuerstein eingesteckt, los ging’s.
Diese Wanderbewegung bedeutete nicht nur geografische, sondern auch kulturelle Veränderungen. Neue Jagdtechniken, andere Werkzeuge, neue Allianzen. Und vor allem: Anpassung.
Die Spuren im Erbgut
Heute, tausende Jahre später, werfen wir einen Blick in die DNA dieser Menschen – und stoßen auf spannende Hinweise. Besonders die Region der Iberischen Halbinsel, also das heutige Spanien und Portugal, spielte eine Schlüsselrolle. Manche Gruppen überlebten dort die schlimmsten Phasen der Eiszeit, um später wieder nach Norden und Osten auszuschwärmen.
Andere hingegen? Von ihnen fehlt jede Spur.
Könnte es sein, dass geografische Fluchtpunkte allein nicht ausreichten – dass auch soziale Netzwerke, Wissenstransfer und kollektive Strategien über Leben und Tod entschieden?
Migration als Überlebensstrategie
Eines wird beim Blick auf diese Phase unserer Geschichte glasklar: Migration war keine Ausnahme – sie war die Regel. Unsere Vorfahren entwickelten keine starren Siedlungspläne. Sie reagierten auf Veränderungen, suchten Ressourcen, passten sich an. Schnell. Flexibel. Und mit beeindruckender Resilienz.
Wer heute noch glaubt, dass Mobilität ein modernes Phänomen sei, irrt gewaltig. Schon damals war Bewegung der Schlüssel zum Überleben.
Und ja – auch Konflikte blieben dabei wohl nicht aus. Neue Gruppen drangen in fremde Gebiete ein. Es dürfte nicht immer friedlich zugegangen sein. Doch ebenso wahrscheinlich ist, dass es Austausch, Handel, sogar kulturelle Verschmelzungen gab.
Der Blick in die Vergangenheit – mit Folgen für die Zukunft
Warum ist das alles heute relevant? Weil es zeigt, wie eng Klimawandel und menschliche Lebensweise verknüpft sind – damals wie heute. Die Klimakrise des 21. Jahrhunderts ist gewaltig, aber in ihrer Essenz keine völlig neue Erfahrung. Was sich geändert hat, sind die Dimensionen – und die Geschwindigkeit.
Unsere Vorfahren hatten keinen CO₂-Ausstoß zu verantworten. Doch sie lebten mit den Folgen natürlicher Klimaveränderungen – und reagierten mit den Mitteln, die ihnen zur Verfügung standen. Wanderung, Neuorientierung, Innovation.
Heute stehen wir vor ähnlichen Fragen – aber mit einem viel größeren Werkzeugkasten. Technologien, globale Kommunikation, wissenschaftliche Zusammenarbeit. Nutzen wir diese Möglichkeiten wirklich konsequent?
Lektionen aus der Steinzeit
Die Forschung aus Köln und von den Partnerinstitutionen liefert mehr als nur trockene Zahlen und Fundorte. Sie erzählt Geschichten von Menschen, die in einer unwirtlichen Welt nicht aufgegeben haben. Die durchgehalten, getüftelt, umgesiedelt sind – und überlebt haben.
Vielleicht ist das die wichtigste Botschaft: Anpassung ist nicht gleich Kapitulation. Sie kann ein Ausdruck von Intelligenz, Kreativität und Überlebenswillen sein.
Natürlich ist der Sprung von der Steinzeit zur Gegenwart riesig. Und doch: Wer sich mit diesen frühen Anpassungsstrategien beschäftigt, erkennt Parallelen. Wenn Ressourcen knapp werden, wenn die Umwelt uns neue Grenzen aufzeigt – dann zählt Flexibilität. Und Solidarität.
Und was bedeutet das für uns?
Heute leben wir in Häusern mit Heizung, streamen Serien und bestellen Essen per App. Und trotzdem geraten wir ins Schwimmen, wenn sich das Klima ändert. Unsere Vorfahren hätten über manche unserer Sorgen vermutlich den Kopf geschüttelt – aber sie hätten uns auch einiges beibringen können.
Zum Beispiel: Geh, wenn du musst. Und lern, dich neu zu orientieren. Nutz, was dir zur Verfügung steht – und halte zusammen.
Denn am Ende ging es damals wie heute um das Gleiche: Überleben. Und Leben – im besten Sinne des Wortes.
Quellen:
- Studie der Universität zu Köln, 2025: „Population dynamics and climate change in Late Palaeolithic Europe”
- Beitrag der European Association of Archaeologists
Von Andreas M. Brucker